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Holger Saarmann - Phantomzeit

Verfasst: Sa 20. Mai 2023, 14:38
von Viktor
Liebes Forum,
Holger Saarmanns Musik war in den vergangenen Jahren hier bisweilen Thema. Da darf doch ein Hinweis auf die neue Platte nicht fehlen.
Diese Woche habe ich sie erhalten und kann sie wärmstens empfehlen. Gern hätte ich eine Rezension aus einer Musikzeitschrift verlinkt, aber da ich keine finden konnte, habe ich halt selbst eine geschrieben:


Holger Saarmann präsentiert mit Phantomzeit ein Album in bester Liedermacher-Manier: Zuhörfreundliche Melodien in abwechslungsreichen, gefühlvollen Arrangements treffen auf handwerklich astreine Texte voll sprachlicher Finesse. Aber die größte Stärke der Platte liegt in den oft sagenhaften Inhalten der Stücke.

„Hab ich das echt erlebt? Ich weiß nicht mehr genau.“ So heißt es einmal im märchenhaften Berlin-Lied Hinterm Ostkreuz. Und damit ist quasi auf das kreative Fantasie-Element verwiesen, das in vielen der Lieder auf Phantomzeit steckt. Denn für Saarmann geht es oft einen Kniff weiter um die Ecke gedacht als nur bloße Alltagsbeobachtung.
So widmet sich das starke Titellied der Vorstellung, dass in ein paar Jahrhunderten unsere heutige Ära gar nicht mehr nachvollziehbar sein könnte aufgrund des rein digitalen Archivierens aller Gedanken und Erkenntnisse, „die uns auf Platten und Platinen / zahlloser Rechenmaschinen / auf ewig sicher erschienen: / Keine Spur mehr von ihnen!“
Ewiger erster Oktober wiederum entwirft eine Welt, in der Lauf der Jahreszeiten stillzustehen scheint – bei untypischem Wetter hat vielleicht mancher schon einmal solch einen Witz gemacht, aber noch keiner hat es so konsequent durchgedacht als Sommerlied-Fantasievorstellung besungen.
Die Texte des Albums stehen bisweilen unter einer weitgefächerten Überschrift – Wenn ich mal groß bin schlachtet beispielsweise das An-irgendwas-Glauben in diverse Richtung aus, von Verschwörungstheorien über Marxismus bis zu christlichem Fundamentalismus –, und sind andere Male einsträngig-geschichtenerzählend wie etwa das actiongeladene Ein Abenteuer.
Nur recht, dass das letztgenannte balladenhafte Lied mit über sieben Minuten zu Buche schlägt und nichts für kurze Aufmerksamkeitsspannen ist. „Ne Rettung nach acht Strophen wär' ein kurzes Abenteuer!“ Diese Bemerkung spricht doch glatt eine Figur der Erzählung zu ihrem Gegenüber, aber meint doch in Wahrheit im Durchbrechen der Fiktionsgrenzen augenzwinkernd uns Zuhörer. Mein lyrisches Ich – gewiss mit Bedacht als Folgelied gewählt – geht erzähltheoretischen Überlegungen dieser Art nach, ganz locker und verspielt.

An sprachlichen Feinheiten, die Freude bereiten, mangelt es auf dem Album ohnehin nicht. Gereimt wird kreativ: Statt Glück/zurück Herz/Schmerz reimt sich eher mal „Winter“ auf „spinnt der?“ oder „schenken, denn“ auf „Andersdenkenden“ oder „Alters“ auf „galt das“.

Holger Saarmanns vornehmliches Instrument ist die Konzertgitarre und diese vernimmt man in den Stücken stets als Kernbegleitung. Wenn die Arrangements zuweilen darüber hinaus mit Instrumenten aufwarten, dann zugunsten eines erfreulichen Abwechslungsreichtums, ohne in nichtssagenden Popschwulst auszuufern. Denn die Instrumentierung wird den jeweiligen Stimmungen der Lieder gerecht. So kommt beispielsweise ein zackiges Lied übers Altern und Geburtstage (So alt wie heute) dank Piano und jazziger Percussion zurecht besonders unstet und vorantreibend daher. Minnesängers Beichte hingegen, der Titel unmittelbar zuvor, besticht mit dezentem musikalischem Kleid und subtilem, zum Stoff passenden, Flötenspiel.

„Noch haptischer wäre selbergesungen!“ So beschreibt der Sänger auf seiner Webseite die Aufmachung des Albums. Völlig richtig, denn man hält ein liebevoll gestaltetes ca. 90-seitiges Heft im CD-Format in den Händen, das als hochwertiges Liederbuch mit Vorwort und eingestreuten Prosatexten einen fast denken lässt, die eigentliche CD sei nur Nebensache. Ein guter Gegenentwurf zum Streaming-Zeitalter: Wenn solch ein Büchlein in einigen hundert Jahren von Archäologen ausgegraben wird, kann niemand unsere Epoche zur Phantomzeit erklären.

Habt ihr die Scheibe? Lieblingslied darauf?
Wer neugierig ist, kann auf holger-saarmann.de  mal reinhören oder eine Bestellung aufgeben.
Viele Grüße
Viktor