Seite 1 von 1

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 14:32
von Gast
Hallo zusammen!
Ich wage hier was textliches zu fragen. Mir fällt sehr schwer einige Momente im Lied "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" zu verstehen. Wenn jemand Zeit hätte, bitte erklärt mir den Sinn folgender Zeilen (ich habe in so vielen Wörterbüchern rumgestöbert und habe nichts gefunden):
1. ...Und statt Rattenfängerweisen
musste er das Largo geigen
und vor dürren Tantengreisen
unter roten Rattenwimpern
par coeur Kinderszenen klimpern
und, verklemmt in Viererreihen,
Knochen morsch und morscher schreien,
zwischen Fahnen aufgestellt
brüllen, dass man Freundschaft hält.
Ich kann nirgendwo das Wort Tantengreisen finden. Ist es Degenhardts Wortschöpfung? Geht es hier um ganz alte Frauen oder wer sind das überhaupt?
Wer hat die roten Rattenwimpern? Die Tantengreisen?
Die Kinderszenen, die Kinder klimpern müssen - sind das kinderliche Theater- oder Musikstücke?
Und schon wieder ein unklares Moment: Knochen morsch schreien. Ist es eine Redewendung? Wenn ja, sagt bitte, was es bedeutet. Ich habe gehört Leute sagen "Meine Kochen schreien", d. h. Knochen tun weh. Hier aber steht mir mein Verstand leider still.
2. Liebte hochgestellte Frauen,
schnelle Wagen und Musik,
blond und laut und honigdick.
Zu welchen Wort könnte honigdick ein Attribut sein - zu den Frauen, Wagen oder der Musik?
3. Eines Tags in aller Helle
hat er dann ein Kind betört
und in einen Stall gezerrt.
Was bedeutet das Wort "betören"? Heißt es, dass er einen Jungen beleidigt hat? Oder hat er ihn - um Gottes willen! - missbraucht?
Mir geht schon mein Kopf auseinander!
Bitte helft mir, wenn jemand Zeit und Lust dazu hätte. Ich würde euch sehr dankbar sein.
LG aus Tscheljabinsk
Andrej (Aleff) Poroschin
P.S. Weißt jemand, was mit Franz Josef Degenhardts Web-Seite los ist? Ich versuche schon den ganzen Tag lang heute sie abzurufen und es geht nicht.
Franz Josef Degenhardt ist einfach hervorragend, obwohl ich nicht immer alles in seinen Liedern verstehe!

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 15:20
von kakadei
Hallo Aleff,
ich kenne das Lied schon seit frühester Jugend und habe mir natürlich auch so meine Gedanken gemacht.
Unter "Rattenfängerweisen" verstehe ich Gossenlieder wie sie von allen Kindern der Welt auf der Straße gelernt und auch -oft heimlich- gesungen werden.
Wer als Kind der sog. besseren Gesllschaft damals Geige spielen (musste), der kam am Largo von Händel nicht vorbei. Damit sind Generationen von kleinen Kindern malträtiert worden. Auch Schumanns Kinderszenen für das Klavier dürften sich in diesem Zusammenhang unvergesslich gemacht haben.
Vor dürren Tanten-Greisen spielen, auch das ist solch eine -für viele Kinder dieser Generation- traumatische Erfahrung. Kulturbeflissene ältere Gutmenschen, scheinbar geschlechtslos und meist sehr alt, die oft als Förderer "besserer" Schulen auftraten und jedes Jahr ein klassisches Konzert erwarteten. So verstehe ich auch die roten Rattenwimpern.
Es zittern die morschen Knochen... das ist ein altes SA-Lied, ich meine dass es in den 20er Jahren entstand.
http://www.youtube.com/watch?v=qxq5KbQ5LrQ 
Im Chor brüllen dass man Freundschaft hält... ein morgendlicher Fahnenappell war damals in "guten Schulen" nicht unüblich.
Ich denke dass FJD sich darauf bezieht.

honigdick... ich denke das ist eine Wortspielerei bezogen auf ein Leben in Laster und Luxus, zu dieser Zeit war das eher verpönt.
Ein Kind betört... unter betören versteht man hier im Ruhrgebiet eher das Verführen. Bezogen auf den weiteren Text "in einen Stall gezerrt" dürfte durchaus von einem Missbrauch die Rede sein.
Das würde auch den Tod des Protagonisten im Rattenteich erklären. In solchen Fällen ist Selbstjustiz ja -bis heute- leider keine Seltenheit.

Ich freue mich, dass auch du dich intensiv mit den Texten von FJD auseinandersetzt.
Liebe Grüße
vom kakadei

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 16:55
von Doro1100
Hallo Andrej!
Da hast Du Dir aber einen sehr schwierigen Text heraus gesucht. Ich
denke, selbst wenn man die deutsche Sprache sehr gut beherrscht versteht man viele Dinge nicht. Mir ist das auch viel zu schwierig ;-)
Die Seite von Degenhardt ist nicht mehr erreichbar. Bei Wikipedia
habe ich unter seinem Namen folgende Notiz zu seiner Webside gefunden:
"seit Ende Juli 2011 Seiteninhalt nicht mehr vorhanden"

Vielleicht wissen ja die Degenhardt-Experten hier, warum die Seite abgeschaltet wurde?
Viele Grüße
von Doro

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 19:23
von Reino

kakadei schrieb:
Es zittern die morschen Knochen... das ist ein altes SA-Lied, ich meine dass es in den 20er Jahren entstand.
Das Lied ist von Hans Baumann (später bekannt als Kinderbuchautor) und stammt aus der katholischen Jugendbewegung. Es wurde dann von den Nazis aufgegriffen (wohl eher in der HJ als bei der SA) und auch leicht umgetextet. So heißt es bei Baumann
"Heute da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt"
in der NS-Version dann aber
"Heute gehört und Deutschland und morgen die ganze Welt".

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 19:30
von Gast
Hallo, kakadei!
Vielen-vielen Dank für deine Antwort und deine Hilfe. Deine Gedanken sind sehr hilfreich für mich!
LG
Aleff

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 19:39
von Gast
Liebe kakadei, Doro und Reino!
Ich bedanke mich auch bei euch für Info und eure Antworten.
Der Text ist wirklich nicht leicht - besonders wenn man die Zeitspanne zwischen uns und der Entstehung berücksichtigt. Man muss schon ein bestimmte Hintergründe der Geschichte und Kultur von innen kennen. :-) Gleichzeitig, wenn man so einen Lied ausführlich analysiert hat, deckt man für sich viel Neues und Interessantes auf.
Nochmals - vielen Dank für die Teilnahme!
Und ja - schade, dass die Web-Seite nicht mehr funktioniert.
LG
Andrej

Schmuddelkinder

Verfasst: Di 2. Aug 2011, 20:27
von kakadei
Hallo Andrej,
es hat mir wirklich Freude gemacht über meine persönliche Interpretation eines "guten alten Degenhardt" zu schreiben.
Hast du sonst noch Fragen? Ich kenne mich in seinem Werk recht gut aus :-)

Was mit der Seite los ist weiß ich leider auch nicht. Glücklicherweise habe ich das Werk Degenhardts auf Platten, zum großen Teil auch auf CD.
Liebe Grüße
vom kakadei