migoe hat geschrieben: ↑So 14. Okt 2018, 20:49
Was sind die Motive für Bürger, die für so eine Partei ihre Stimme hergeben? Protest ist legitim und deshalb überrascht mich nicht das Ergebnis für die Freien Wähler und die Grünen - und dass die Parteien, die im Bund regieren, gleichermaßen einen herben Stimmenverlust verzeichnen müssen, ist zwar vor allem für die SPD in Bayern sehr bitter, aber auch das überrascht mich persönlich nicht. Gegen was genau protestiert jemand, der sein Kreuz bei der AfD macht? Gegen Europa? Gegen Gleichberechtigung? Gegen Migration? Gegen die Medien?
Na ja, also ein paar Gruppen kann man wahrscheinlich recht schnell benennen:
- mental verrottete Lebewesen gibt's offenkundig auch im Bayernland.
- so ziemlich der einzige halbwegs konsequent durchdachte Punkt im gesamten Wahlprogramm der AfD ist die Wirtschaftspolitik, die ich noch den Zeiten von Herrn Lucke zuschreibe. Ein paar wohlhabende Leute oder Arbeitgeber, die sich von der AfD deutlich größere Vorteile versprechen als von der FDP (weil - welche FDP?, die fanden ja praktisch während des Wahlkampfs nur auf der Witzseite statt), dürften wahrscheinlich auch ihr Kreuzchen an jener Stelle gesetzt haben.
- ein paar denk- und/oder lesefaule Menschen, die allen Ernstes immer noch glauben, nur weil hier als einziges "Alternative" drauf steht, sei auch die einzige Alternative drin. Was in etwa so ist, als würde man glauben, die CSU habe etwas mit dem Christentum zu tun ... Ich find's erschreckend, wie viele Leute in Online-Kommentaren allen Ernstes behauptet haben, bei CSU, SPD, Freie Wähler, Grünen oder FDP handele es sich im Gegensatz zur AfD um "konservative Parteien". Mag an mir liegen, aber eine Partei, die Frauen strategisch den Weg in einen Beruf verbaut, eher das traditionelle Weltbild von der vielköpfigen Familie ausruft, die auch noch Oma und Opa pflegt, die an anderer Stelle gegen Homosexuelle gewettert hat, die im Kern den Sozialstaat aushöhlen, Mutter Natur zum Deubel schicken, den Medien einen Maulkorb verpassen sowie gleichzeitig die Vorurteile gegenüber Ausländern befeuern und ein Exportland wie Deutschland einigeln möchte, würde ich nicht unbedingt als "progressiv" bezeichnen.
Ein paar Gruppen machen es einem aber auch etwas schwerer, daher folgt hier der Spekulatius:
- Herr Seehofer hätte sich besser überlegt, zu welchem Thema er das Maul aufmacht. Der Versuch, der AfD die Wählerschaft streitig zu machen, indem er plötzlich ähnliche Töne anschlägt, ist meines Erachtens voll nach hinten losgegangen. Es hätte so viele Themen gegeben, die er hätte beackern können, zu denen sich die AfD nicht äußern kann, und in denen er hätte punkten können, stattdessen hat er ihr mehr oder weniger in die Karten gespielt. Auch hier erschreckend, wie schnell sich alternative Fakten im Internet verbreiten, die die Panikmache vor dem Schwarzen Mann auch noch stützen. Wenn man sagt, daß die meisten Verbrechen in Deutschland immer noch von Deutschen begangen werden (in der letzten Kriminalstatistik lag der Anteil der Verbrechen, die von Zugezogenen begangen wurden, bei 4,8 %), so daß eine Konzentration auf Bekämpfung der Ausländerkriminalität so ziemlich 95 % aller begangenen Verbrechen plötzlich bagatellisiert, kriegt man auch bei Belegen zur Fakten im Internet einen Gegenwind, der schon nicht mehr schön ist.
- Ich halte es darüber hinaus für ein gigantisches Problem, daß viele Leute nicht mit ihrem eigenen Staat oder den Aufgaben innerhalb einer Demokratie vertraut sind. Das gilt erstens für die Zuständigkeit von Bundes-, Landes- und Kommmunalpolitik - Frau Merkel scheint für ALLES verantwortlich zu sein und demzufolge auf ALLES eine Antwort wissen zu müssen, die regionale Politik oder die jeweilige Verwaltungsebene wird völlig ausgeblendet -, zweitens läuft's mir eiskalt den Rücken runter, wenn Menschen nach einer direkten Demokratie verlangen, aber gleichzeitig ihrer Holschuld nicht nachkommen und sich darüber informieren, was gerade auf welcher Ebene, in welchem Gremium politisches Thema ist und wie darüber diskutiert wird. "Die sitzen nur da und drehen Däumchen" höre oder lese ich häufiger, oder "Die reden an unseren Belangen vorbei". Ein Blick in die Sitzungspläne des Bundestags oder die Protokolle dazu zeigt mir aber tatsächlich das Gegenteil - es wird nur nicht wahrgenommen, daß da einige wichtige Entscheidungen getroffen werden (nicht nur, klar. Nicht immer für die gleiche Bevölkerungsgruppe, klar. Aber halt auch). Würden sich mehr Leute dafür interessieren, sähe die Stimmenverteilung ganz anders aus, da bin ich mir sicher. "Da kommt endlich frischer Wind in den Landtag" habe ich oft gelesen, wenn dort die AfD eingezogen ist. Nur - das tut er eben nicht. "Die treiben die Etablierte vor sich her", heißt es. Wo denn genau? Wenn ich mir die Ergebnisse der AfD-Aktivitäten in verschiedenen Landtagen so anschaue und Rückmeldungen aus Kommunen bekomme, schaut das Bild eher so aus, daß die AfD fast durchgängig auf Konfrontation statt auf Kooperation setzt. Heißt, es wird alles angeprangert, was die Regierung durchsetzen will. Anträge oder Anfragen der AfD bremsen eher die Politik aus als daß sie sie befeuern, zumal sie oft genug nicht das eigentliche Thema betreffen, sondern Nebenkriegsschauplätze, oder - bei Anträgen - bereits von anderen Fraktionen bereits eingebracht wurden, wenn auch mit anderen Begründungen, un im weiteren Verlauf abgelehnt wurden. Die positiven Ergebnisse, die die AfD in Landtagen erreicht hat - mir fällt kein einziges Beispiel ein, und die AfD sitzt nicht erst seit gestern in einem Landtag. Fragt man die Leute danach, die sich zur AfD bekennen, kommt auch eher heiße Luft als konkrete Beispiele. Im Extremfall bekommt man zu hören, daß die AfD doch so lange nichts erreichen kann und die Regierungsversager nicht mit guten Vorschlägen stützen will, solange sie nicht selbst an der Macht sitzt, aber wenn das erst mal der Fall ist, dann ..., was in meinen Augen zwar eine brandgefährliche Einstellung ist, aber - ist halt eine ...
- Wer sich die Mühe gemacht hat, sich mit funktionsfähigem Hirn durch die 100 Seiten Wahlprogramm der AfD in Bayern durchzuarbeiten, wird etwas Bemerkenswertes festgestellt haben. Das Programm ist ja im Juni auf dem AfD-Parteitag durchgefallen. Danach wurde es wahrscheinlich nochmal mit heißer Nadel überarbeitet und schließlich vom AfD-Chef Herrn Sichert eigenmächtig veröffentlicht. Letzte Woche durfte ich noch der Süddeutschen entnehmen, daß AfD-Kandidat Dr. Gerhard Großkurth in einer internen AfD-Online-Diskussion offenkundig die Meinung vertrat, er "sehe [...] ein, dass es wohl besser ist, dieses [Programm] nicht unnötig unter die Leute zu bringen. Mit zunehmender Verbreitung steigt das Risiko, dass das jemand liest". Womit er zweifellos richtig liegt, denn das Programm ist extrem halbgar. Durchdacht sind zumindest in weiten Ansätzen die Wirtschaftspolitik, wobei hier zunehmend dran rumgedoktort wird, so daß andere Passagen desselben Wahlprogramm diesen Absichten entgegenstehen. Das ist in anderen Bereichen ebenfalls der Fall, meint: hier treffen einige sich widersprechende Ansichten aufeinander. Nüchtern betrachtet ist das Wahlprogramm in dieser Ausprägung meiner Ansicht nach das erste schriftlich fixierte Pendant zur Sprachregelung der AfD, die zunächst eine sehr radikale Äußerung in die Weltgeschichte trägt, dadurch Aufmerksamkeit erregt, nur damit die AfD später wieder zurückrudern kann ("Das haben wir soo nie gesagt" oder "Da sind wir falsch zitiert worden" oder "Das wurde aus dem Zusammenhang gerissen"). Der Vorteil der Sprachregelung: durch radikale Äußerungen gewinnt man die Zustimmung radikaler Gruppen. Durch das Zurückrudern gewinnt man die Zustimmung gemäßigter Gruppen. In diesem Wahlprogramm kollidieren die gemäßigten mit den radikalen Ansichten und die unterschiedlichen Vorstellungen von einer deutschen Zukunft. Im wesentlichen halte ich die AfD nach Lektüre des Wahlprogramms für eine völlig zersplitterte Partei, geeint nur durch die Ablehnung der "Etablierten" und der "Ausländer", die an allem die Schuld tragen. Kennen wir ja von früher, da waren die Juden bekanntlich auch an allem schuld. Sobald es auch nur einen Schritt in die Richtung einer Zukunftsgestaltung geht, fangen die Widersprüche an, und das sind keine kleinen ... Nicht, daß ich glaube, die AfD stünde vor einer massiven Krise, so naiv bin ich leider nicht. Aber ich halte sie nach wie vor für eine gigantische, unberechenbare Wundertüte. Ich glaube, daß die AfD mit ihrem Wahlprogramm, so sich das jemand außer mir angetan hat, einige Leute auf ihre Seite ziehen konnte, die zum Schluß gekommen sind "so schlimm sind die doch gar nicht".
- Was ich so gelesen habe in den letzten Wochen, hat mir auch zu denken gegeben. Herr Sichert hat sich in die Presse gestellt und schon von 20 % in Bayern für seine Partei orakelt. Damit lag er ein bißchen daneben. Seien wir froh drum. Nur - er lag nicht völlig daneben, denn tatsächlich hat die AfD in einigen Regionen bemerkenswerte Ergebnisse geholt. Ich gehe davon aus, daß die AfD hier einen - organisatorisch betrachtet - wirklich guten Wahlkampf geleistet hat, indem sie vor Ort war und mit Menschen diskutiert hat. Die Präsenz vor Ort dürfte der AfD einige Bonuspunkte eingebracht haben. Wenn ich jetzt mal eine Parallele ziehe: in den letzten Jahren haben Rechtsrock-Konzerte wieder Konjunktur, gerade in Thüringen und Sachsen gibt es einzelne Veranstaltungsorte, die mittlerweile schon fast Tradition haben. In der Folge haben sich einige Ansichten der dortigen Bevölkerung verschoben. Daß an diesen Orten natürlich entsprechende Gegendemonstrationen stattfinden, ist eigentlich abzusehen. Mittlerweile gelten diese Linken in einigen jener Orten eher als Störfaktor als die dort feiernden Rechten.
Das war KEIN guter Tag für Bayern!
War's nicht. Und es wird auch nicht wesentlich besser werden, wenn ich mir die jüngsten Äußerungen der Herren Söder und Seehofer so anhöre. Ich will hoffen, daß sie eher bereit sind, aus der Niederlange ihre Lehren zu ziehen, als sie im Augenblick zu erkennen geben ...
Gruß
Skywise