Ich hatte gestern die Gelegenheit, nach viertägiger Lektüre den Buchdeckel zu der 2005 erschienenen Autobiographie "Schloß aus Glas" von Jeannette Walls zu schließen ... na ja, oder was davon übrig ist - ist ein entweder oft benutztes oder selten geschätztes Bibliotheksexemplar.
Die US-Amerikanerin Jeannette Walls ist das, was man hierzulande wohl etwas herablassend als "Klatschjournalistin" bezeichnen würde. Sie treibt sich auf den Partys mit den Reichen (Einfluß und Geld) rum, hat ihre eigenen Kolumnen in Zeitungen und sogar einen Sendeplatz im TV. Über ihre Kindheit und Jugend hat sie nie gern gesprochen, und wenn, dann hat sie gelogen. Ihre Autobiographie deckt denn auch den Grund dafür auf, und zwar direkt mit einem der bizarrsten Einstiegssätze, die mir bislang in einem Buch begegnet sind:
"Ich nestelte an meiner Perlenkette und fragte mich, ob ich nicht doch zu elegant für die Party angezogen war, als ich aus dem Taxifenster schaute und Mom sah, die gerade einen Mülleimer durchwühlte."
Damit beginnt ein ebenso humorvoller wie berührender Rückblick auf eine Kindheit in einer ebenso sonderbaren wie bettelarmen Familie. Ihr Vater ist ein intelligenter, kreativer, aber unangepaßter Querkopf, der keinen Job lange behält, sondern sich eher mit Gelegenheitsarbeiten und Glückspiel durchschlägt, und immer weiter in die Fänge des Königs Alkohol gerät, während ihre Mutter eine egozentrische Künstlernatur ist, die Verantwortung oder Verpflichtungen als Einschränkung ihrer Persönlichkeit ansieht. Beiden Elternteilen ist gemein, daß sie das Leben als großes Abenteuer betrachten, das ungebunden gelebt werden will, was zur Folge hat, daß sie staatliche Hilfen ablehnen und so gemeinsam mit ihren vier Kindern Stück für Stück auf der sozialen Leiter nach unten fallen. Ein ruhiges Leben ist so gut wie unmöglich; häufig kommt es zu fluchtartigen Ortswechseln, wenn mal wieder die Geldeintreiber hinter der Familie her sind. Es dauert daher recht lange, bis die Kinder begreifen, daß ihre Familie anders ist als die anderen - und noch ein wenig länger, bis ihnen klar wird, daß sie für ein Leben nach eigenen Vorstellungen nicht gerade die idealen Voraussetzungen mitbringen. Trotz des Hungers und manch brenzliger Situation bezeichnet Jeannette Walls ihre Kindheit als "glücklich", und das glaubt man auf jeder Seite, dank der einfühlsamen Beschreibungen ihrer Eltern und Wohnorte, den teils naiven Gedankengängen, die sie während bestimmter Situationen hatte und natürlich dem sarkastischen Unterton, mit dem die erwachsene Jeannette Walls rückblickend die Ereignisse oder die Erläuterungen ihrer Eltern kommentiert. Wenn man dieses Buch lesen möchte, braucht man eine Vorliebe für skurrile Situationen, die das Leben Jeannette Walls in die Feder diktiert hat. Man liest nicht alle Tage, daß sich ein Mädchen aus Geldmangel seine eigene Zahnspange bastelt oder daß die Eltern einer Frau, die an der Park Avenue lebt, das Leben von Obdachlosen führen. Oder auch die Anekdote über die von ihr während einer Vorlesung geäußerten Theorie, daß einige Leute in sozialer Armut leben, weil sie es genau so haben wollen, woraufhin ihre Professorin derart entrüstet aufbraust, daß sie ihre Äußerung kleinlaut wieder zurückzieht.
Ein entwaffnend offenes Buch, das eher unterschwellig zum Nachdenken über Werte und Menschenbilder anregt. Kann ich empfehlen

Gruß
Skywise