Viktor hat geschrieben: ↑Sa 21. Jan 2023, 11:45
Bei all diesen Auseinandersetzungen, Diskussionen, Reflexionen ist mir allerdings eine kleeeeeeine Fraktion aufgefallen, die es so weit treibt, dass es mich nervt: Nämlich wenn ohne Berücksichtigung des Kontexts tatsächlich bestimmte Begriffe kategorisch tabuisiert werden, um irgendwie durchzudrücken, dass die Worte nicht einmal beim Drüber-Reden, beim Zitieren oder beim Spielen einer böswilligen Rolle gesagt werden sollen. Da wären migoe und ich jetzt quasi schon die Bösewichte, weil wir etwas geäußert haben, wenn auch in Anführungszeichen. Dieses Nichtberücksichtigen von Kontext hindert meiner Meinung nach die Diskussion, es geht dann nicht mehr um Respekt, sondern um eigenes Überlegenheitsgefühl und Kontrolle -- und gibt ganz nebenbei der "bald darf man nichts mehr sagen"-Fraktion unnötige Legitimation. (Diese Extremform begegnet mir aber hauptsächlich unter US-amerikanischen ultra-Linken.)
Deinen Kommentar empfinde ich als wohltuend differenziert. Hierin kann ich mich sehr gut wiederfinden.
Was mich zunehmend beschäftigt: Diese 'kleeeeeeine' Fraktion wächst und wird gefährlich intoleranter, gerade in akademischen Kreisen. Ich bekomme da sehr unbehagliche Gefühle, weil ich feststelle, dass ausgewogene Meinungen in unserer heutigen gesellschaftspolitischen Diskussion sogar existenzgefährdend sein können. Wer würde es z. B. wagen, soziologische Studien zu veröffentlichen, die eindeutig belegen, dass dies oder jenes nicht dem Wunschdenken entspricht. Ein Lehrstuhl kann sehr schnell wackeln. Eine sich entwickelnde wissenschaftliche Karriere erfordert schon immer, aber jetzt noch mehr, Anpassung an ungeschriebene Gesetze. Diese neuen 'Gesetze' behindern aber einen offenen Diskurs.
Mir kam beim Schreiben dieser Zeilen eine Erinnerung:
Bei meiner Ausbildung zum Chem.-techn. Assistenten fand ich eine Geschichte sehr interessant. Wir hatten das Thema Edelgase besprochen und lange Zeit herrschte in der Wissenschaft der allgemein anerkannte Lehrsatz, dass Edelgase aufgrund ihrer Struktur keine chem. Verbindungen mit anderen Elementen bilden. Nun denn, irgendwann wurde doch ein wissenschaftlicher Aufsatz veröffentlicht, in dem ein Autor eine solche Verbindung beschrieben hat, die er experimentell herstellen konnte. Plötzlich kam in sehr kurzem Abstand eine ganze Welle von solchen Veröffentlichungen, die verschiedene Edelgasverbindungen beschrieben. Die lagen schon bereit in den Schubladen diverser Chemiker, die Angst hatten, dass sie ihre wissenschaftliche Reputation verlieren, wenn sie solche Dinge behaupten. Aber man konnte sich ab dann eben angstfrei einreihen, da einer es gewagt hatte.
Nun, es geht eigentlich hier nur um das Wort 'Indianer' in einem Lied der 80er Jahre. Das Wort kann ich übrigens nur sehr schwer als Beleidigung empfinden, eher als veraltet und halt nicht mehr zeitgemäß. Jedem steht das Recht zu, dies anders zu empfinden. Ich benutze es eigentlich nicht mehr.
Mit dem Wort
'Neger' ist dies ganz anders, dies ist eine eindeutige und heftige Beleidigung und hat im alltäglichen Sprachgebrauch wirklich überhaupt keine Daseinsberechtigung mehr. Doch es stimmt mich nachdenklich, dass
selbst das Zitieren dieses Wortes heftigste Reaktion hervorruft. Wenn ich erzähle, dieser oder jener Neonazi hat "Heil Hitler" gerufen, so mach ich mich doch auch nicht gemein mit dieser Überzeugung. Man soll bitte schön den Ausdruck
'N-Wort' benutzen, da er sonst auf schwarze Menschen (re)traumatisierend wirken könnte. Nun: Soll ich jetzt form- und moralgerecht logischerweise auch sagen "Der Neonazi hat
"H-H" gesagt, weil das wörtliche Zitieren keinem Menschen jüdischen Glaubens zuzumuten ist?
Viktor hat geschrieben: ↑Sa 21. Jan 2023, 11:45
Und dass einer das Lied komplett verbieten wollte, ist ja gar nicht vorgekommen -- und so wird es hoffentlich auch bleiben, weil wir alle 1984 von 2023 unterscheiden können.
Nun ja, da gibt es doch eine Problematik was 'Verbote' angeht. Dieses Lied war ein richtiger Hit in den 80igern und kein Mensch hat sich wegen dieser Passage dabei etwas gedacht. Es ist durchaus denkbar (oder sagen wir sogar zu befürchten), dass die Programmchefs heutzutage die Stichwortlisten der gespeicherten Lieder durchforsten, um Anweisung zu geben, diese oder jene Lieder bitte nicht mehr auf die Sendelisten zu setzen. Es wimmelt eben heutzutage von
subtilen Verboten. Und die einen setzen die Auswahlkriterien flexibel und differenziert und die anderen können so dogmatisch sein, dass keine Luft mehr zum Atmen bleibt. Wenn jemand seine Auffassungen von 'Moral' so extrem eng setzt, nenne ich dieses Verhalten im Geiste immer 'katholisch', auch wenn es im nichtreligiösen Bereich geschieht. Den meisten muss ich dies wohl nicht erklären, was ich damit meine. Da gibt's halt nur Himmel und Hölle und sehr klare Entscheidungskriterien und Regeln. Zwischendrin ist nicht erlaubt.
Ich war das Opfer einer solchen Erziehung und habe damit gute Antennen für solche Fehlentwicklungen.
Damit hätte ich jetzt auch den Bogen zu Marcs Kommentar geschaffen.
Marc hat geschrieben: ↑Fr 20. Jan 2023, 18:58
sprachliche Entwicklungen sind für mich - knapp und grob formuliert - immer ein Hinweis auf gesellschaftliche Entwicklungen
Ja, dies alles sind Zeichen einer Entwicklung. Und Entwicklung ist ein wertneutraler Begriff, weil eine Entwicklung, wie ein räumlich lokalisierter Weg, verschiedenste Richtungen nehmen kann - mit positiven, negativen oder harmlosen Folgen. Da gibt es Bewegung, die auf einem breiten Weg schnurgerade und schnell zu einem Ziel führt. Da gibt es Bewegungen die plötzlich Umwege nehmen. Da gibt es Bewegungen, die sich plötzlich in die Rückwärtsrichtung orientieren. Entwicklungen, die haarscharf an einem Ziel vorbeigehen. Und es gibt Bewegungen, bei denen ganz klar ist, dass man das Ziel nie er erreichen wird und trotzdem Bewusstsein da ist, dass es nicht unnütz ist, diesen Weg zu gehen ("Der Weg ist das Ziel", wie es so schön heißt). Und letztendlich die Erkenntnis, dass ich niemanden zwingen darf und kann, mich auf meinem Weg zu begleiten. Vielleicht stelle ich irgendwann - erstaunt?! - fest, dass der Andere sich genauso hin zu dem gleichen Ziel bewegt wie ich. Nur, er ging (oder geht halt) einen anderen Weg. Vielleicht wandert man auch mal eine Zeitlang zusammen, doch plötzlich trennen sich die Wege.
Marc hat geschrieben: ↑Fr 20. Jan 2023, 18:58
Das Nachdenken über einen respektvollen Umgang kann - für mich - per se nur richtig sein.
Bitte korrigiere mich (als Französischlehrer) ob ich es richtig mache, wenn ich sage, da sind wir
d’accord, um es von meiner Seite aus ein bisschen angeberisch und scheingebildet auszudrücken
Marc hat geschrieben: ↑Fr 20. Jan 2023, 18:58
Die Aussage „Man darf bald gar nichts mehr sagen“ empfinde ich arrogant und ist für mich ein Zeichen fehlender Bereitschaft oder Fähigkeit, über seinen eigenen Sprachgebrauch nachzudenken.
Dieses "gar nichts" stört mich auch immer. So was ist viel zu undifferenziert und signalisiert für mich gleichfalls mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Diese Phrase wird von bestimmten Kreisen als Kampfbegriff benutzt und wer diesen Satz benutzt, signalisiert schon eindeutig, dass er (meist) nicht sachlich oder überhaupt nicht drüber reden will.
Meine Position ist, dass ich
Übertreibungen /
Fehlentwicklungen (siehe oben) im 'sensiblen Sprachgebrauch' kritisiere. Und mein Stilmittel ist dabei eben oft die Ironie oder ich spöttel gern darüber (oder grinse halt bei solche Situationen, wie ich sie exemplarisch im Eingangspost beschrieben habe). Um es bildlich auszudrücken: Die verbalen Verrenkungen und Bemühungen des Moderators bei der Veranstaltung im Humboldt-Forum erweckten in mir sofort Vergleiche zu Hape Kerkelings "Hurz" oder dem "tänzelnden Vertreterschritt" in Reinhard Meys Lied "Vertreterbesuch".
Ich wurde jahrelang sehr gut für die (berufliche) Rolle des Narren bezahlt. Und nicht ohne Grund habe ich schon immer das Märchen "Des Kaisers neue Kleider" geliebt. Genauso wie ich das Lied "Bevor ich mit den Wölfen heule" schätze. Ein Werk, dessen Thematik topaktuell ist. Und wie war das noch mit dem Lied "Annabelle"? ...
Um zu einem Ende zu kommen, ein letzter Satz:
"Wenn ihr das Bedürfnis verspüren solltet, mich in eine Schublade stecken zu müssen, dann bitte in die mit Süßigkeiten"
Liebe Grüße aus dem kalten Leipzig
Barde