Hallo migoe und Mey-Forum,
Zum Lied:
Ach ja, Reinhards geschichtenerzählenden Lieder, die mit 'nem Mollakkord anfangen: Da bin ich meist von Anfang an begeistert.
So mag ich auch dieses Lied sehr.
Lange war mir nicht klar, was ich an diesem Titel speziell so toll finde, aber jetzt habe ich eine Idee:
Obwohl es keine Ich-Perspektive gibt (wie ja durchaus in vielen von Reinhards Liedern, auch nicht-autobiographischen), sondern immer von einem "Er" in der dritten Person gesprochen wird, ist die Erzählung
ganz, ganz nah an der Figur dran, was so toll zur verzweifelten, verfolgten Stimmung passt.
Ich kanns sogar beweisen!
Denn man denke z.B. an die deiktische Partikel "da" in
"Der Mann im Kiosk da" -- die Erzählerstimme ist in Wahrheit nicht nah am Kiosk, sondern nur aus Sicht unseres Protagonisten ist der Kiosk direkt "da"!
Und natürlich sieht und empfindet man oft durch die Perspektive des Mannes - egal, ob es gar nicht explizit gesagt wird (
"Das Zimmer ringsherum begann, sich zu drehen" [gemeint: so fühlte es sich für ihn an!]) oder eben doch (
"Es traf ihn wie ein heimtückischer Schlag",
"Ihm schien, die Blicke aller richteten sich nur auf ihn").
Außerdem gibt es weitere Einblicke in die konkreten Gedanken des Mannes und das geschieht in vielen Stellen des Songs per erlebte Rede, ein guter Kniff aus der Erzählerebene heraus doch nah an der Psyche der Figur zu sein. Beispiel:
"Nein, er ging' doch wohl besser durch das Treppenhaus" -- Das sind die abwägenden Gedanken des Mannes und nicht der Erzählinstanz (man beachte das interjizierende "nein" als Indiz). Die Alternativen, direktes Gedankenzitat (
"Er dachte sich: 'Nein, ich gehe doch wohl besser ...'") oder indirekte Rede (
"Er dachte sich, dass er doch wohl besser ..."), würden weniger unmittelbar daherkommen!
Und der Clou ist dann natürlich, wenn solche Techniken erst einmal etabliert sind, dass bei manchen Passagen (bewusst) doppeldeutig bleibt, ob es nun die Gedanken der Figur oder des Erzählers sind, nämlich gerade bei den allgemeingültigen zentralen Fragen:
"Wie ist es möglich, dass so etwas in der Zeitung steht?" usw.
Ich wage aber zu behaupten, bei der letzten Frage:
"Aber Hand aufs Herz, wer liest, was so klein in der Zeitung steht?" spricht und überlegt dann aber nur noch der Erzähler, um die Moral der Geschichte zu betonen, und die Fokalisierung durch den Protagonisten hat uns verlassen -- er hat förmlich aufgegeben, vielleicht sogar schon zwei Zeilen zuvor, und der gute Mann hat die Gegendarstellung gar nicht mehr gelesen, weil sie auch nichts zur Sache tut.
Zum Auftritt:
Playback kann ich ja sehr wenig abgewinnen, eine kuriose Pest der 1980er. Aber hier muss man Reinhard lassen, dass er sehr synchron performt, Respekt!
(Interessanter YouTube-Kanal; kann man ruhig abonnieren, finde ich )
Zur heutigen Bedeutung:
Ja, die Übertragung auf die neuen Medien liegt schon nah, wie du schon sagst, Migoe. Bei sehr vielen pseudojournalistischen Webseiten geht es eher ums Schnellsein und Irgendwas-Veröffentlichen als um Wahrheit, das ist echt frustrierend. Und etwa die Twitter-Welt kann mit ihrer
soft power tatsächlich das echte Leben von Menschen negativ beeinflussen, auch wenn Verwechslung oder Unwahrheit zugrunde liegen.
Aber trotzdem habe ich irgendwie Bedenken, dass das Lied in seiner Bedeutung verzerrt heutzutage besonders "Lügenpresse"-Rufern gut gefällt, in die ich mich nicht einreihen möchte. Denn guten Journalismus gibt es durchaus und da wäre solch eine Verwechslung damals wie heute keine realistische Option.
Aber na ja, dagegen kann sich ein Lied wohl eben auch nicht wehren.
Viele Grüße
Viktor
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