Viktor hat geschrieben: ↑Mi 18. Mai 2022, 11:38
Am 12. Juni gibt es in Mainz einen Stählin-Abend mit einigen tollen Teilnehmern, nämlich Bodo Wartke, Sebastian Krämer, Annett Kuhr, Manfred Maurenbrecher, Linard Bardill (mit Begleitmusikern), Claudia Fink, Uli Zehfuß und Martin Betz
Hat stattgefunden, wenn auch ohne Linard Bardill und dessen Begleitmusiker. Als Schatteneminenzen waren noch Ben Kreisel an der Baßgitarre und Victor Plumettaz am Violoncello dabei, die gelegentlich unterstützend eingriffen, aber die stammen nicht aus Bardills Dunstkreis.
Das Konzept des Abends: die SAGOnauten, also gewissermaßen die "Schüler" Christof Stählins (und zusätzlich der Weggefährte Manfred Maurenbrecher) interpretieren jeweils ein Stählin-Werk und im Anschluß ein eigenes Opus. Wie der geneigte Zuhörer bereits im Vorfeld am mannigfaltig belegten Devotionalientisch erfahren konnte, sahen wenigstens zwei Musiker den Abend mehr oder weniger als eine Mischung aus den beiden Tribut-Alben "Die Versammlung der Inseln", erschienen 2013 (zwischenzeitlich vergriffen, nun allerdings wieder verfügbar gemacht), und "Nur meine Lieder", erschienen 2022. Wer allerdings bestimmte Interpretationen des Abends auf diesen beiden CDs sucht, wird dies vergeblich tun.
Meine ursprüngliche Befürchtung, daß der Publikumsraum nur geringfügig besser bestückt sein würde als die Bühne, hat sich zwar nicht in dieser extremen Form bestätigt, allerdings war schon auffällig, daß der Veranstalter mehr als die Hälfte der üblichen Bestuhlung des Frankfurter Hofs eingedampft hat zugunsten der Technik und einer Plattform, von der aus offenkundg ebenfalls Bildaufnahmen gemacht wurden. Und es waren dennoch noch genügend freie Plätze vorhanden, was nun wiederum den aktuell nicht beschäftigten Musikern die Chance bot, das Konzert vom Zuschauerraum aus zu verfolgen, meint: zeitweise hockten da gemütlich Maurenbrecher, Wartke, Zehfuß, Fink und Kuhr um einen rum oder zwei Handbreit weg ... war also eine ziemlich entspannte Atmosphäre. Mag aber auch am Publikum gelegen haben. Kommt nicht mehr so häufig vor in meinem Alter, daß man das Gefühl hat, zu dem Teil des Publikums zu gehören, der den Altersschnitt senkt. Bleiben wir kurz beim Publikum: es waren offenkundig einige Leute im Saal, die mit dem Werk Stählins nicht sonderlich vertraut waren; anscheinend wurde dieser Abend von einigen "Kennern" dazu genutzt, Themenfremde an den Liedermacher heranzuführen, was ich unter "positiver Aspekt" verbuchen würde. Umgekehrt scheinen die bekannteren Namen Wartke oder Maurenbrecher nicht unbedingt dazu beigetragen zu haben, dass sich Leute in die Vorstellung setzten - der Applaus gegen Ende bevorzugte praktisch keinen Künstler, wobei allerdings noch gesagt werden sollte, daß auch während der Beiträge die Reaktionen des Publikums eher artig bis gleichförmig ausfielen. Ob ein paar humorvolle Bemerkungen der Interpreten oder einige bzw. eigenwillige Interpretationen (oder selbst verfaßte Lieder) wirklich ankamen, läßt sich bemerkenswert schwer einschätzen.
Stählins Februar-Lied "Komm, küß mich" eröffnete den Reigen. Ulrich Zehfuß durfte das Lied auf "Versammlung der Inseln" interpretieren, Claudia Fink und Max Prosa auf "Nur meine Lieder". Für den Abend kombinierten Fink und Zehfuß sowohl ihre Interpretationen als auch ihre Stimmen ... es dürfte einer der ruhigsten Konzertanfänge gewesen sein, die der Frankfurter Hof in den vergangenen Jahren erlebt hat, nicht nur corona-bedingt. Fink band im Anschluß das Titelstück ihres ersten deutschsprachigen Albums "Über Wasser" (2022) ein mit der Betonung, wie wichtig Stählin bzw. vor allem SAGO für dieses Album gewesen seien, was ich durchaus nachvollziehbar fand. Ulrich Zehfuß hängte seiner Stählin-Interpretation ein bislang unveröffentlichtes Lied an über die Hoffnung, seinem Sohn möge das Soldat-Sein erspart bleiben. Beeindruckend - der Mann kann schmettern, wenn er will. Sebastian Krämer brachte nach Stählins "Amors Becher", das auf "Nur meine Lieder" enthalten ist, seine "Gesine" (lange her ... "Ein Freund große Worte - Sebastian Krämer singt", 2005) zu Gehör. Etwas überraschend fiel der anschließende Beitrag von Bodo Wartke aus - auf "Nur meine Lieder" wurde seine Interpretation von Stählins Frühwerk "Der Busen" veröffentlicht, für das Konzert wählte er allerdings den "Kraken", ein Lied, das Stählin selbst nicht eingespielt, sondern für die geschätze Schweizer Sängerin Dodo Hug verfaßt hat. Und im Anschluß wischte er kurz entschlossen meine Einschätzung beiseite, daß das Stück "Zweifel und Zuversicht" (Album "Wandelmut", 2020) live nicht funktionieren könnte. Sebastian Krämer läutete im Anschluß die Pause ein mit "Der arme Poet", einem augenzwinkernden Stück, das Stählin zwar noch fertigstellte, aber nicht mehr aufnehmen konnte, und das Krämer für sein 2018er Album "Vergnügte Elegien" aufgriff.
Annett Kuhr hat einige von Stählins Lieder in ihr Repertoire aufgenommen, insofern fiel ihre Interpretation der "kleinen heilen Welt" (Album "Nochmal von vorne!", 2013) routiniert aus. Mit dem idyllischen "Hiddensee" folgte ein noch unveröffentlichtes Lied. Annett Kuhr hat ebenfalls Stählins "In 100 Jahren" eingespielt (selbes Album), die Version von Manfred Maurenbrecher war sowohl auf dem Album "Nur meine Lieder" als auch im Konzert bedeutend rhythmischer, nahezu als Rap ausgelegt. Von allen Künstlern des Abends dürfte sich Maurenbrecher damit stilistisch am weitesten von der Vorlage entfernt haben. Wahrscheinlich hat er mit seiner Interpretation zum einen einige Leute erschreckt, umgekehrt hat er aber auch aufgezeigt, daß Stählin durchaus Texte zu bieten hat, die auch dann noch funktionieren, wenn man sie aus ihrem ursprünglichen Umfeld herausschält. Ebenso drängend, polternd, allerdings auch dezent melancholisch fügte er ein Lied an über die Entwicklung der Bedeutung von Musik, von dem ich wenigstens hoffe, daß es nicht mehr lange unveröffentlicht bleiben wird. Moderator Martin Betz schloß am Kinderklavier mit Stählins "Lob des Himmels" und am erwachsenen Klavier mit dem eigenen "Seltene Erden" den Hauptteil des Programms ab. Zum Finale drängten sich die beteiligten Musiker zu Stählins "Der Wind" auf der Bühne noch um die beiden Mikros, die teilweise enorme Niveauunterschiede bewältigen mußten (Bodo Wartke ist nun mal deutlich größer als Claudia Fink ...), und deren Gestelle während der Auftritte von Wartke und Betz bewiesen hatten, daß sie nicht immer den Anforderungen gewachsen waren. Ohne allzu großen Druck des Publikums setzte Annett Kuhr den Schlußpunkt in Form einer A-cappella-Version des "Schlaflieds (Alles braucht seine Weile)".
Stählins Konzerte mit SAGO bezogen ihren Reiz vor allem aus der Vielfalt der Teilnehmer. Dasselbe gilt auch für diesen Christof-Stählin-Abend. Keiner der Teilnehmer hat versucht, den Vortrag von Christof Stählin nachzuahmen, stattdessen hat jeder versucht, seinen eigenen Stil mit einfließen zu lassen oder - siehe Maurenbrecher - mit dem Ausgangsmaterial zu spielen, es vielleicht auch gegen den Strich zu bürsten, um das Potential auszukundschaften. Aus diesem Blickwinkel war es ein gelungener Abend, wenn auch mit einem für meinen Geschmack deutlich zu passiven oder besser: zurückhaltenden Publikum.
Die Internetseite der Christof-Stählin-Gesellschaft ist seit einigen Tagen online (
www.christof-staehlin-gesellschaft.de ); die Bestände des ursprünglich auf Stählins Seite angebrachten Shops wanderten ebenfalls dorthin, somit sind weite Teile der Discographie Stählins sowie diverse andere Utensilien wieder erhältlich. Zwar sind einige Informationen, darunter die Discographie, noch lückenhaft, aber - auf jeden Fall besser als nix oder das, was man sonst so im Netz findet. Ein Gespräch mit dem schulterzuckenden Kassenwart Martin Betz ("man braucht halt einen") im Anschluß an das Konzert ergab unter anderem, daß für das Jubiläumsjahr 2022 drei Veröffentlichungen der Gesellschaft angedacht sind: die Tribut-CD "Nur meine Lieder" ist bereits veröffentlicht, ein Liederbuch zumindest angekündigt, eine dritte Veröffentlichung soll sich mit der Didaktik Christof Stählins auseinandersetzen, mit seinem Denkansatz, seinen Absichten und seinen Methoden. Über die weiteren Pläne der Gesellschaft wurde nicht gesprochen, da auch andere Zeitgenossen Interesse an Martin Betz' Ausführungen hatten und Fragen einstreuten, die vom Gesprächsthema Christof-Stählin-Gesellschaft langsam wegführten, und so blieb es dabei.
Gruß
Skywise
P. S.: Entschuldigung an Ulrich Zehfuß an dieser Stelle - ich hab gedanklich das von ihm intonierte Stählin-Lied verschlampt ... keine Ahnung mehr, was da zu hören war, mea culpa. Wahrscheinlich war das Anschlußlied einfach zu dominant. Womöglich fällt mir der Titel in zwei Stunden bis zehn Jahren wieder ein, wie immer.