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Michael Otto: „Als wär es eine Nacht“

Verfasst: Mo 1. Jun 2020, 06:36
von Marc
Ihr Lieben!

Die persönliche Widmung auf dem CD-Cover liefert den stichhaltigen Beweis: Auf den Tag genau ein Jahr ist es nun her, dass mir Michael Otto sein Debütalbum „Als wär es eine Nacht“ beim Liedertreffen zwischen Elbe und Havel in Klietz in die Hand drückte. Jahr für Jahr fragten ihn die Freunde vom Liedertreffen: „Wann machst du endlich mal eine CD?“. Fast schien es, als rissen wir uns die Gitarrensaiten an Michael aus. Doch das „freundliche Drängeln“, für das er sich auf der Cover-Rückseite bedankt, wirkte offenbar doch.

Es wird Zeit für eine kleine Liebeserklärung, denn durch alle Jahreszeiten hindurch, auf langen Autofahrten, Land auf, Land ab, auf Reisen und zu Hause, an hellen und an dunklen Tagen, haben mich die 15 Lieder des Albums begleitet. Mir persönlich wird dadurch noch mal bewusst, welche lyrische und musikalische Kraft von den Liedern ausgeht. Michaels Lieder haben kein Verfallsdatum und sind nicht zum schnellen Verzehr geeignet. Schon der bedrohlich-verstörende „Prolog aus der Gruft“ – welch ein Einstieg in ein Album! – fordert die ganze Aufmerksamkeit des Hörers ein und setzt quasi den Doppelpunkt für die weiteren 14 Titel: Hier folgen keine Lieder, die man nebenbei beim Bügeln hören kann. Michaels Lieder wollen immer wieder neu gehört und neu ergründet werden und gehören für mich damit zu der vom Aussterben bedrohten Art jener Lieder, die mich innerhalb eines Hördurchgangs – ja, ich höre Alben in der Regel von vorn bis hinten ohne Unterbrechung durch – herausfordern, amüsieren und berühren können.

Warum, habe ich mich immer wieder, von Liedertreffen zu Liedertreffen, gefragt, ziehen mich Michaels Lieder derart in ihren Bann? Erst mit dem Album ist mir bewusstgeworden: Verdammt, spielt der gut und abwechslungsreich Gitarre! Seine Lieder biedern sich – so wie er selbst – nicht gerade an. Die Akkorde, die Michael liebt, sind dissonant, und sein Gesang – oder besser gesagt: sein rhythmisches Sprechen – ist es oft auch. So wie „Der kleine Prinz“ durch das Leben stolpert, stolpert auch Michael schon mal durch den Text – und genau das ist es, was mich so fasziniert: Jeder gespielte Akkord, jeder gesungene Ton und jeder gedichtete Vers sind aufeinander abgestimmt, was bei Michael aber gerade eben nicht bedeutet, dass Akkord, Ton und Vers für dreieinhalb Minuten Händchen halten oder gar kuscheln. Wenn ich mir vor Augen führe, wo Michael mit dieser speziellen Art und Weise, Lieder zu schreiben, verwurzelt ist, berührt mich das: Dass Michael das ergreifende Lied „Für Franz Josef Degenhardt“ an das Ende seines Albums setzt, ist wohl nicht nur als Ausdruck größten Respekts zu verstehen, sondern auch als Ausdruck tief empfundener Dankbarkeit, im Bewusstsein, woraus die eigenen Lieder neben dem ganz persönlichen Erleben erwachsen sind.

Also doch nur ein Degenhardt 2.0? Eben nicht! Michael gelingt genau das, was vielen jungen Liedermachern nicht gelingt (zur Klarheit: „jung“ gemessen an veröffentlichten Alben, nicht an Lebensjahren). Er bleibt nicht an den Themen der musikalischen Ahnen kleben, er spürt die relevanten Fragen unserer Zeit auf („Jetzt sind sie da“). Michael denkt die Themen konsequent weiter, etwa wenn er wie wohl alle Liedermacher irgendwann mal – „erschrick bloß nicht!“ – in einer Kneipe einkehrt („Zum wiehernden Pferd“) oder – herrlich vorgetragen! – „Natalja Poklonskaja“ anhimmelt (auch auf Russisch, wodurch sich der Sänger wohl größere Chancen erträumt, bei der Angebeteten erhört zu werden). Stilistisch gelingt ihm der Talking-Blues als Rollenlied („No Ma’am“ – mit elektronischer Begleitung!) genauso wie das große historische Epos („Die Ballade von Adam Golub“). Wenn Michael jedoch glaubt, „Es gibt keinen Sendeschluss mehr“, muss von Vater zu Vater die kritische Nachfrage erlaubt sein, ob Michael „Bernd das Brot“ nicht kennt – die geniale Antwort des Kinderkanals auf den Sendeschluss. Anders kann man Michael kaum verzeihen, dass er ganz und gar der – wie er selbst singt – „dummen Nostalgie“ verfällt und – „was war das für eine Zeit!“ – Testbilder und Serienhelden wie Cold Seavers beschwört, oder aber – au weia! – zugibt, dass er die drittklassige Schauspielerin Roswitha Schreiner gern geheiratet hätte. Die einzig relevante Frage, die das Lied nicht beantwortet, ist: Welcher begnadete Soulbrother zählt hier eigentlich das Lied ein?

Ein Liedermacher wäre natürlich kein Liedermacher, blickte er ausschließlich aus dem Fenster, auf die Gesellschaft. Natürlich schaut Michael auch auf ganz persönliche Erlebnisse und Lebensereignisse zurück. Das wohl berührendste Lied ist – wie sollte es anders sein? – „Finjas Lied“, das zum Schluss eine dieser wunderbaren Otto’schen Wendungen erfährt. Bewegend ist auch die „Toruner Ballade“, die viel mehr ist als der Rückblick auf eine Studentenreise, nämlich die liebevolle Erinnerung an glückliche Tage tief empfundener Freundschaft. Dass Michael einen Vers dieses Liedes – in gewisser Weise seinem „Komm, gieß mein Glas noch einmal ein“ – für den Titel des Albums gewählt hat, könnte als Grundstein für weitere Alben verstanden werden. Womit ich wieder beim „freundlichen Drängeln“ wäre. Lass, lieber Michael, weitere Steine in Form weiterer Alben folgen!

Lieben Gruß aus Hannover
Marc

Michael Otto: „Als wär es eine Nacht“

Verfasst: Mi 3. Jun 2020, 12:13
von Michael
Lieber Marc,

hab vielen Dank für deine lieben Worte, sie haben mich sehr gerührt und gefreut. Und sie motivieren mich natürlich auch.

Das Lied über den "Sendeschluss" ist entstanden, als ich noch kein Kinderkanal-Konsument war und die Sendeschluss-Performance von "Bernd, das Brot" noch nicht kannte (übrigens findet Kirsten das etwas gruselig). Ich bin zu alt um zur ersten Generation der Kika-Gucker zu gehören, sonst wäre statt Roswitha Schreiner (die eine großartige "Tatort"-Kommissarin war) wahrscheinlich Singa Gätgens ins Lied gekommen ;-)

Liebe Grüße, Michael