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von Carsten K
#6
Lieber Gerd,
Danke für dieses Lied, und dass Du es auch nochmal bei Youtube reingestellt hast. Ein sehr guter und einfühlsamer Text, der ohne Phrasendrescherei auskommt, was in diesen Tagen ja auch nicht selbstverständlich ist. Kompliment!
Gleiches gilt übrigens auch für das Lied von Alex Diehl, das Helmut heute Morgen in den Nachbar-Thread gestellt hat, finde ich.
Mir ist seit Freitag noch kein entsprechender Liedtext zum Thema eingefallen, und es kann auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich das, was mir in diesen Tagen alles durch den Kopf und durch die Seele geht, so auf den Punkt gebracht habe, dass ein angemessener Liedtext daraus entsteht. Ich glaube auch nicht, dass ich jetzt um jeden Preis ein Lied darüber schreiben MUSS, aber ich bewundere Leute wie Dich oder Alex Diehl, denen das in so kurzer Zeit in so überzeugender Weise gelingt.
Dein Lied ist eine Liebeserklärung an die Stadt Paris und das Lebensgefühl, das wir mit dieser Stadt verbinden.
Aber ich muss gleichzeitig auch an die unzähligen Kriegs- und Terroropfer in Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderswo denken, wo das, was am Freitag in Paris geschehen ist, tagtäglich passiert. Und ich muss daran denken, dass u. a. hier in Deutschland seit Monaten in übelster Weise gegen die (relativ wenigen) Menschen gehetzt wird, denen es unter gefährlichsten Umständen gelingt, vor dem Krieg und dem Terror in ihrer Heimat nach Europa zu flüchten. Ich muss daran denken, dass auch quasi direkt vor meiner Haustür in Berlin-Marzahn eine Unterkunft gebrannt hat, in der sich diese Menschen, die gerade vor Krieg und Terror geflohen sind, eigentlich endlich sicher fühlen sollten. Und ich muss auch daran denken, dass am vergangenen Wochenende Massen von Facebook-Nutzern ihr Profilbild blau-weiß-rot eingefärbt haben, die meisten ganz bestimmt aus ehrlicher Betroffenheit und aus ehrlichem Mitgefühl, aber auch nicht wenige, die in den vergangenen Monate nichts besseres zu tun tun hatten, als dort bei Facebook tagtäglich gegen Flüchtlinge, Muslime und sogenannte "Gutmenschen" zu hetzen.
Ja, ich habe Angst. Und ich bin nicht bereit, dies zu leugnen. Meine Angst hat sich durch die Ereignisse vom vergangenen Freitag in Paris auch sicherlich nochmal verstärkt. Aber ich hatte auch vorher schon Angst, nicht nur davor, möglicherweise selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden, sondern vor allem vor dem Hass, der solchen Attentaten zugrunde liegt, jetzt in Paris, 2011 in Norwegen, über ein Jahrzehnt lang in Deutschland durch den NSU, seit Jahrzehnten in Israel und Palästina, London 2005, Madrid 2004, New York und Washington 2001... Ich könnte diese Auflistung endlos weiterführen und würde trotzdem bei weitem nicht alles erfassen, was tagtäglich, auch heute am 19.11.2015 in dieser Welt passiert...
Ja, ich habe Angst. Aber nicht meine Angst ist "geschürt", sondern der Hass, vor dem ich Angst habe, wird geschürt, und dies auch nicht erst seit letztem Freitag...
Was also tun? "Liebe ist die einzige Macht, die im Stande ist, einen Feind in einen Freund zu verwandeln.", sagt Martin Luther King. "Ich habe zu viel Hass gesehen, als dass ich selber hassen möchte." und "Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.", sagt er ebenfalls. Was also tun? Den Hass versuchen, durch Liebe zu überwinden, ja, diese Botschaft habe ich verstanden. Aber es fällt mir gerade in diesen Tagen schwer, die Hasser, Hassprediger (ob Islamisten, Nazis oder nur "besorgte Bürger") selbst nicht zu hassen sondern zu lieben.
Was also tun? Na klar, als Liedermacher schreibe ich natürlich ein Lied, was sonst? Aber was soll Thema des Liedes werden? Ein Liebeslied für die Hassprediger kommt irgendwie nicht in Frage, klar. Ein Hasslied aber auch nicht. Vielleicht ein Lied über die Schwierigkeit, in Tagen wie diesen sich trotzdem nicht zum Hass hinreißen zu lassen, trotzdem zu lieben...
Ihr seht, vieles geht mir (nicht erst) seit Freitag durch den Kopf und durch die Seele, und ich finde auch Worte dafür, auch wenn seit Freitag noch kein Lied daraus geworden ist...
Ja, ich habe Angst, aber ich werde weiterhin zu Konzerten gehen, wenn ich es möchte, werde als Liedermacher auftreten und weiterhin neue Lieder schreiben. Und wenn ich verreisen möchte und es notwendig ist, werde ich auch weiterhin ein so potentielles Anschlagsziel wie den Berliner Hauptbahnhof dafür aufsuchen. Und wenn es mich wieder mal nach Paris, in die Stadt der Liebe, ziehen sollte, werde ich mich durch den vergangenen Freitag nicht daran hindern lassen, dorthin zu fahren...
In diesem Sinne
Liebe Grüße
Carschti
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"Wenn man als junger Mensch aussah wie ein Hippie und sich einigermaßen treu geblieben ist, sieht man als alter Sack halt aus wie ein Penner und nicht wie Joschka Fischer."
Harry Rowohlt (1945-2015)