Beitrag
von Michael
#3
Hallo,
da wollte ich mal einen Bericht schreiben und da ist mir doch einer zuvorgekommen. Trotzdem von mir mal ein ausführlicher Bericht:
für die wohl kleine aber ganz sicher feine Gemeinde von Degenhardt-Freunden (und hoffentlich nciht nur für Jürgen)will ich mal vom Konzert am Freitag in Seligenstadt berichten. Eigentlich wollte ich gar nicht hin, weil das Kaff doch recht außerhalb liegt und das ist für einen Autolosen wie mich schlecht. Dann habe ich mich aber doch entschlossen, zu versuchen, da hin zu kommen. Das klappte auch, obwohl wir NATÜRLICH noch um 18 Uhr (am Freitag!) eine Besprechung machen mussten und ich NATÜRLICH die Kritik zur Sendung machen musste, also nicht schwänzen konnte. Aber dann hab ich’s doch problemlos und rechtzeitig geschafft. War auch gut so, denn ich hatte ihn schon vier Jahre nicht mehr gesehen und so wahnsinnig viele Konzerte gibt er ja nicht mehr, vor allem nicht in meiner Nähe.
Im Saal waren vor allem ältere Semester und da war es ganz gut, dass ich auch da war, so war Kai Degenhardt, der seinen Vater begleitete, nicht der Jüngste im Saal (Nein, das war gemein, waren schon noch ein paar junge Leute da). Ist ja für mich nichts Neues, dass man sich aus Altersgründen bei so einer Veranstaltung etwas deplaziert fühlt, aber neu war, dass man da auch drauf angesprochen wurde („Wie kommt jemand wie Sie denn auf Degenhardt?“). Nun ja, dann kamen die beiden also auf die Bühne und das erste, was ich dachte, war, oh, der ist aber alt geworden. FJD, inzwischen ganz ergraut, hat offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Laufen. Die Frühjahrstournee war ja auch wegen Krankheit abgesagt worden. Aber von der leichten Gebrechlichkeit abgesehen, war alles wie immer. Die absolute Dissidenz, inhaltlich und formal. Dass auf der Bühne nicht viel passiert, ist ja nicht ungewöhnlich, Degenhardt aber beschränkt sich auch in seinen Ansagen auf das Wesentliche. Wenn es überhaupt Zwischentexte gibt, dann sind die genauso ausgefeilt wie die Lieder. Persönliche Worte an Publikum oder Spontanes fehlt vollkommen. Er hält dadurch immer eine gewisse Distanz zum Publikum. Das erste Lied war das alte, jetzt wieder neu aufgelegte „Diesmal wird ich nicht“, gleich etwas Programmatisches also. Es blieb aktuell-politisch mit dem „Quantensprung“ und dann eine seiner skurrilen Geschichten („Go East“). Dann kam „Wölfe mitten im Mai“ von 1965. Ein äußerst bildstarkes Lied über die Gefahr der Wiederkehr des Faschismus, je öfter ich es höre, desto mehr denke ich, es ist eines der besten deutschsprachigen Lieder überhaupt. Jetzt wurde er etwas melancholisch mit einem neuen Lied offenbar über seine Mutter, ein Lied, das einem richtig ans Herz ging ohne peinlich zu sein. Fast mit einer gewissen Heiterkeit erzählt. Es kamen weiter Erinnerungen eines alten Mannes an die Vergangenheit und zum Abschluss des ersten Teils sein „Lied, für die ich es sing“, wie viele Lieder mit einigen aktualisierten Versen. Nach der Pause, die meiner Meinung nach viel zu lang war – ich langweile mich halt schnell, wenn ich allein bei so was bin – kam im zweiten Teil zunächst der „Tanz im Freien“, also noch eine, diesmal auch augenzwinkernde und selbstironische Rückschau. „So what“ ist eines von seinen Rollenliedern, in denen er den Schwätzern der aktuellen Politik treffend die (Charakter-) Masken vom Gesicht reißt, zwar böse aber nicht bösartig, sondern so treffend, dass man manchmal herzhaft lachen muss über die Lächerlichkeit einiger Argumente, die heute allgemein selbstverständlich scheinen. Nächster Programmpunkt war die Frage, wie eigentlich die Situation der Linken nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus einzuschätzen ist und, wie als Antwort darauf, das Lied von der „Kirschenzeit“, Degenhardts Übertragung von „Les temps des cerises“, dem Lied der Pariser Commune, auch einer großen Niederlage. Das letzte Lied im Programm war dann „Kommt ihr Gespielen“ von der aktuellen CD „Quantensprung“, auch das eine melancholische Rückschau, die aber von einer hoffnungsvollen Zuversicht getragen ist. Als Zugaben kamen dann noch die Lieder, die er immer als Zugaben spielt und die ich da auch hören will. Die netteste Szene des Abends war, als Franz Josef einen solchen Texthänger hatte, dass ihm Sohnemann Kai mehrmals zuflüstern musste, wie es weiter geht, bis der Vater wieder im Text war, und das ausgerechnet beim wahrscheinlich zehntausendmal gespielten „Schmuddelkinder“-Lied. Danach gab’s tosenden Applaus und standing ovations. Die Herren bekamen je eine Flasche Wein von den Organisatoren und wir bekamen noch eine Zugabe. Es war eigentlich alles wie immer und das ist auch gut so.
Jetzt habe ich in diesem viel zu langen Beitrag gar nichts über Kai Degenhardts Gitarren- und Melodikaspiel geschrieben, das dem stoischen strengen Gitarrenschlag des Vaters so schön virtuos entgegensteht und einfach einen klasse Sound macht. Aber erwähnen will ich es immerhin, weil es wirklich wichtig ist.
Hier noch mal die Liste der Lieder, wie ich sie in Erinnerung habe:
Teil 1: Diesmal wird ich nicht – Eigentlich unglaublich – Quantensprung – Go East – Wölfe mitten im Mai – „Das neue Lied“ ??? – Der Lindenbaum – In der Glitzerpassage – Lied für die ich es sing
Teil 2: Tanz im Freien – Reiter wieder an der schwarzen Mauer – So what – Am Fluss – Kirschenzeit – Herbstlied – Botschaft an eine Enkelin – Kommt, ihr Gespielen
Zugaben: Das Testament – Spiel nicht mit den Schmuddelkindern – Ja, es gibt diese Abende noch
Leider fuhr in diesem Kaff um halb neun der letzte Zug, so dass ich letztlich ein Taxi zur S-Bahn nehmen musste, das fast doppelt so teuer war wie die Eintrittskarte, aber das war’s wert, denn ehrlich gesagt, man weiß ja nicht, wie oft die Gelegenheit noch kommt. Also, wenn sie zu euch kommt, Leute, nutzt sie!!!
Michael
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Und vielleicht gibt es morgen ja schon den Crash,
dass die Kurse und Masken fallen.
Also laßt uns freuen und träumen davon,
wie die Racheposaunen erschallen.
Franz Josef Degenhardt